Freiheit als Ambivalenz

Die Rolle der technischen Verführung

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Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Der Begriff benennt in Philosophie, Theologie und Recht der Moderne allgemein einen Zustand der Autonomie eines Subjekts.

Auszug aus Wikipedia

Sucht man einen Einstieg in das Thema Freiheit und fängt, wie dieser Tage üblich, bei Google oder Wikipedia an, so stößt man schnell auf obige Beschreibung dieses individuell wie kollektiv so elementaren Begriffs. Das Internet hat uns nicht nur auf informationeller, sondern auch auf handlungstheoretischer Ebene nie dagewesene Autonomie ermöglicht, eine Fülle von Informations- und Handlungsoptionen eröffnet und unsere Gesellschaft auf einzigartige Art und Weise revolutioniert. Die Freiheit, die wir heute haben, ist zweifellos eine andere als in vordigitalen Zeiten. Sie unterliegt einer anderen Definition, und digitale Technik spielt dabei eine ganz besondere Rolle. Bevor jedoch die Rolle dieses Technikeinflusses auf die gegenwärtige Ausprägung von Freiheit und persönlicher Autonomie näher beleuchtet werden soll, muss zuerst das Fundament von (heutiger) Freiheit dargestellt werden. Es muss zu Beginn einer jeden Debatte über Freiheit immer über den kleinsten gemeinsamen Nenner, über den Kern mit Ewigkeitscharakter gesprochen werden. Und die Kernfrage dürfte dabei stets dieselbe sein: Was ist Freiheit (heute) überhaupt, sprich: wie groß ist (heute) die bereits erwähnte Autonomie?

 

Keine grenzenlose Freiheit

Darauf eine Antwort zu finden ist nicht leicht, denn die Definition von Freiheit ist nicht universell, ist es nie gewesen – weder im kleinen noch im größeren Kreis, weder in westlichen noch in nichtwestlichen Gesellschaften, weder heute noch morgen oder gar übermorgen. Es dürfte letztlich unmöglich sein, das Ausmaß von (individueller) Freiheit jemals millimetergenau abmessen zu können. Eines gilt aber zweifellos auch heute, trotz weltweiter, blitzschneller Kommunikation, trotz digitaler Revolution, gerade wegen zutiefst menschlicher Denk- und Lebensweisen: Freiheit ist nicht grenzenlos. Die Grenzen verschieben sich ständig, wahrscheinlich mehr denn je ist Freiheit, ist ihre Ausgestaltung nun ein Prozess, gerade aufgrund digitaler Einflüsse, und kein über einen längeren Zeitraum kontinuierlich festzuschreibendes Konstrukt, welches nur alle paar Jahre neu verhandelt werden muss (wie sich das sicherlich nicht wenige Menschen aufgrund des gegenwärtigen Strebens nach immer mehr Struktur und Ordnung in diesen unruhigen Zeiten wünschen). Deshalb erscheint es hilfreich, ja, aus Sicht der internetsoziologischen Analyse in digitalen Zeiten geradezu zwingend, einer Formel von Joachim Gauck zu folgen: Freiheit mit Verantwortung. Freiheit steht über allem, zweifellos, aber sie steht dort eben nicht allein und sie steht nun mal auch nicht still. Sie ist gekoppelt an Verantwortung, an verantwortungsvolles Handeln, an verantwortungsvolles Sein, egal, in welche Richtung sie sich bewegt, wie genau sie ausdifferenziert wird, wie sie im Moment aussehen mag. Gerade wenn Freiheit mehr denn je ein Prozess ist, der dauerhafte Struktur und Ordnung weitestgehend vermissen lässt, erscheint eine dauerhafte Kopplung an ein Korrektiv, sprich, an Verantwortung sinnvoll. So entsteht eine zeitlose Definition von Freiheit mithilfe eines Korrektivs, welches der erste – und wohl auch wichtigste – Schritt zur Verringerung der inhärenten Ambivalenz ist.

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Und an Ambivalenz mangelt es heutzutage nicht: Freiheit ist aufgrund des digitalen Einflusses einerseits – zumindest für die, die die notwendigen (digitalen) Fähigkeiten besitzen, sie entsprechend zu nutzen – so groß wie nie zuvor. Andererseits ist Freiheit aber auch gerade aufgrund dieser im Digitalen begründeten Veränderungsprozesse unter Druck geraten wie nie zuvor, denn bei gravierenden Veränderungen und den darauffolgenden Aushandlungsprozessen steht naturgemäß vieles zur Disposition, was früher nicht infrage stand. Schließlich haben nicht alle Menschen immer nur ein Interesse an einer Verbesserung von Freiheit, wie man beispielsweise in China anhand des Sozialkreditsystems sehen kann. Freiheit benötigt deshalb heutzutage besonders viel Empowerment, Ermächtigung, Befähigung des Einzelnen und der Gesellschaft, um positiv ausgestaltet werden zu können. Denn die Freiheit, die uns die Technik einräumt, können wir eben nur dann nutzen, wenn wir diese auch bedienen können. Die dafür notwendigen Aushandlungsprozesse und daraus resultierende Ergebnisse ergeben sich kaum (mehr) automatisch oder gar intuitiv, auf Basis von Alltagswissen, Heuristiken oder eines langen, intensiven Berufs- oder Familienlebens und der daraus resultierenden Analogiebildung von sozialen Kompetenzen. Mehr denn je hängt Freiheit, hängt Autonomie mit technischem Wissen zusammen. Und mit dem Willen, es zu erlangen.

 

Digitale Technik verführt

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Die Technik macht es uns dabei nicht gerade einfach. Sie unterstützt Empowerment nicht von selbst. Auch wenn die digitale Technik an sich nichts macht, nichts machen kann – erst recht nicht sich selbst und ihren Auswirkungen Sinn geben –, so dürfte unbestritten sein, dass Technik ganz grundsätzlich verführerisch ist. Wir entdecken Technik – im Alltag, im Privaten, im Berufsleben – und lassen uns auf sie ein. Die menschliche Neugier ist die Triebfeder, die Technik selbst das Objekt der Neugier. Ihre konkrete Ausprägung kann uns mal mehr, mal weniger verführen – aber gerade die digitale Technik erscheint besonders reizvoll. Dabei geht es nicht um konkrete Angebote wie iPhone, Facebook oder Twitter, sondern um die Eigengesetzlichkeiten der Digitalisierung, um die grundsätzlichen Aspekte, welche digitale Technik auf einzigartige Art und Weise ausprägen – und manchmal verführerisch machen. Die Fragen dazu lauten deshalb: wie wird Freiheit heutzutage durch die technische Verführung beeinflusst? Wie sehr müssen wir die (digital-)technische Verführung berücksichtigen, wenn wir von Freiheit mit Verantwortung sprechen? Was ist beispielsweise das (technisch) Verführerische an sozialen Netzwerken? Wikipedia beschreibt beispielsweise den Kurznachrichtendienst Twitter wie folgt: „Twitter wird als Kommunikationsplattform, soziales Netzwerk oder ein meist öffentlich einsehbares Online-Tagebuch definiert. Privatpersonen, Organisationen, Unternehmen und Massenmedien nutzen Twitter als Plattform zur Verbreitung von kurzen (max. 280 Zeichen) Textnachrichten (Tweets) im Internet.“1  Wer ein geradezu idealtypisches Beispiel für die Verführung durch die beiden Kernattribute dieser Definition – Kommunikationsplattform, Kurznachrichtenverbreitung – sucht, sollte sich den Twitteraccount von US-Präsident Donald Trump anschauen. Im Falle von Donald Trump sind es wohl gleich mehrere, subjektive wie objektive, Aspekte, die dieses digitale Werkzeug für ihn attraktiv erscheinen lassen.

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Eine gewichtige Rolle dürfte die Unmittelbarkeit der Interaktion spielen, die Verbreitung einer Nachricht ohne den, üblicherweise gefilterten, Umweg über klassische (Medien-)Kanäle. Twitter bietet eine direkte und verzögerungsfreie Kommunikationsplattform. Dazu gehört in der Folge die Abhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten der, von ihm in weiten Teilen als „Fake News Media“ bezeichneten, Medienhäuser von genau diesem Kanal: man muss Trump folgen, auch wenn man von einem Fan oder gar Jünger beruflich wie politisch meilenweit entfernt ist. Doch das Amt macht ihn zu einem der mächtigsten Twitterakteure weltweit – man kann (als Journalistin und Journalist) faktisch nicht an ihm vorbeikommen. Es ist dieser direkte Verbreitungsaspekt in Kombination mit einer direkten Abhängigkeit der Rezipienten, der sehr gut in Trumps Agenda passt – und den Twitter in seinem Falle sogar aktiv unterstützt.2

Risiken und Nebenwirkungen

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Natürlich hat diese Unmittelbarkeit der Nachrichtenaussendung auch gravierende Risiken, welche zumindest Trumps politische Gegner sehr erfreuen dürften. Nicht nur die Inhalte (vorschnell) ausgesendeter Tweets bergen Gefahren, sondern auch der Kontext: „We’ve never had this ability to read so much on what a president is thinking.“3

Die technische Verführung erfolgt nicht risikolos, sondern ist trotz hoher inhaltlicher Passung zu Trumps eigenen Vorstellungen und Zielen (sein Fake-News-Media-Feldzug, seine Vorliebe für eine direkte Adressierung seiner Fans und Gegner) jederzeit gegeben.

 

Dass man mithilfe von Twitter jederzeit Massen von Menschen erreichen kann, kann folglich gleichermaßen segensreich wie riskant sein – so oder so ist diese Komponente eine Folge technischer Verführung. Jetzt kann man freilich argumentieren, dass (gerade kurze) Nachrichten immer im jeweiligen Kontext betrachtet werden müssen, eine einzelne Verfehlung in 140 oder 280 Zeichen nicht unbedingt in eine Katastrophe führen muss, denn es geht ja nicht nur um Quantität (Reichweite), sondern auch um Qualität (inhaltliche Einordnung). Doch durch die enorme Informationsmenge, die heute auf uns einströmt, stellt sich stets die Frage: wo endet die Kontextualisierung? Betrachte ich nur Twittermeldungen – und wenn ja: wie viele brauche ich, um ein stimmiges Gesamtbild zu bekommen? Brauche ich weitere Kanäle zur Meinungsbildung? Gar ein persönliches Gespräch, einen persönlichen Eindruck, ganz jenseits digitaler Kanäle? Twitter verführt, genauso wie andere soziale Netzwerke, zur Nachrichtenaussendung, hilft aber nicht unbedingt bei der Nachrichtenauswertung. Soziale Aspekte – Anerkennung, Interaktion, Interpretation usw. – sind Folgen der technischen Verführung. Zu nennen sind hier beispielsweise niedrige Einstiegshürden, intuitive Nutzungsmöglichkeit, niedrige Kosten, leichte Verfügbarkeit, hohe funktionelle Zuverlässigkeit und internationale Kompatibilität.

 

Soziale Lösungen, nicht nur technische

Die Erkenntnis, dass die jeweilige Ausformung der Technik eine konkret-relevante Rolle bei der Gestaltung der digitalen Lebenswelt spielt, dass also die inhaltlichen Ergebnisse dem technischen Rahmen folgen, ist nun keineswegs neu. Im Gegenteil, noch bis in die frühen 2010er Jahre glaubte man auf Seiten vieler Entscheidungsträger, dass gerade die Technik und ihre jeweilige Ausprägung nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung darstellten. Man denke dabei nur an die Debatten über die Vorratsdatenspeicherung, „Zensursula“ oder Stasi 2.0. Dabei hat sich genau diese Denkweise als ganz besonders verheerend erwiesen, denn sie hielt die Gesellschaft viel zu lang von sinnvollen sozio-technischen Lösungsansätzen ab. Inzwischen dürfte auch im digitalen Zeitalter als akzeptiert gelten, dass soziale Herausforderungen vorrangig soziale Lösungen erfordern, die zwar Technik berücksichtigen, aber in ihr nicht das alleinige Allheilmittel sehen, sondern sie sozial sinnvoll einsetzen. Die technische Herausforderung im digitalen Raum ist deshalb heute anders zu bewerten: Der Aspekt der technischen Verführung ist dem Bereich der Eigengesetzlichkeiten der Digitalisierung zuzurechnen, also den Aspekten, die Kern einer jeden sozio-technischen Analyse, Bewältigungsstrategie und Lösungssuche sein müssen. Es kann keine sinnvolle Antwort auf digitale Herausforderungen ohne die Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeiten der Digitalisierung geben, die immer gleichen Einfluss auf alle digitalen Dienste, Werkzeuge und Kanäle nehmen. Das Herausarbeiten der einzigartigen Merkmale digitaler Phänomene ist deshalb unverzichtbar und Daueraufgabe aller, die an entsprechenden Lösungen arbeiten. Dass gerade die Sozialwissenschaft hier viel versäumt hat, ist im Übrigen besonders brisant, denn so blieben über lange Zeit viele Fragen unbeantwortet.

Freiheit ist und bleibt eine besondere Herausforderung und digitale Technik bringt eine extreme Ambivalenz hinein, denn die Eigengesetzlichkeiten der Digitalisierung tragen im Falle ihrer Beherrschung zu einer enormen Freiheitserweiterung, im Falle der Unbeherrschbarkeit jedoch zu einem gigantischen Freiheitsverlust bei. Diese Herausforderung anzunehmen, heißt, sich einem extremen Prozess zu stellen, und das gelingt logischerweise nicht unbedingt ad hoc. Zwar hilft es, entsprechende Vorbedingungen zu berücksichtigen, sowohl ganz allgemein (Stichwort: Freiheit mit Verantwortung) als auch en detail (sprich, durch genaues Studium der Eigengesetzlichkeiten digitaler Phänomene). Doch auf Dauer bleibt das Ganze eine permanente Arbeit an sich selbst: Empowerment ist dabei nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Diese Arbeit, für die Freiheit, ist anstrengend, leider ohne kurzfristige Erfolge und auf unbestimmte Dauer angelegt, eben ein Prozess. Doch unsere Autonomie sollte uns alle Mühen wert sein. Wir müssen die Technik beherrschen, nicht umgekehrt. Wir alle sind für unsere Freiheit verantwortlich – wahrscheinlich so sehr wie noch nie zuvor.

Über den Autor

Stephan Humer & Charies Abel

Stephan G. Humer, Jg. 1977, Diplom-Soziologe, Prof. Dr., Gründer und Leiter des Forschungs- und Arbeitsbereichs Internetsoziologie, Professor für Digitale Innovation und Methodenlehre, Hochschule Fresenius Berlin. Senior Fellow der Digitalen Klasse an der Universität der Künste Berlin.

Charies Abel, Jg. 1994, Mitarbeiterin im Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie der Hochschule Fresenius Berlin, Projektmitarbeiterin im BMBF-Projekt PERFORMANCE. Studentin (B.Sc.) der Wirtschaftspsychologie und Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung.


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