Wikipedia – many shades of free

Wenn wir etwas nicht wissen, schlagen wir in der Wikipedia nach.

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Doch die Plattform bietet mehr als vorgekautes Wissen an, sie ist auch selbst eine Quelle für neue Erkenntnisse. Dutzende Wissenschaftler versuchen zu erklären, wie die Wikipedia funktioniert, und welche Mechanismen die Wissensplattform zusammenhalten.

Wer mehr über die Funktionsweise des Netzes erfahren will, muss auch die Wikipedia studieren. Seit 2001 existiert das Projekt, seit mehr als zehn Jahren gilt es als unangefochtene Wissensplattform im Internet. Wer etwas über die Mechanismen des Netzes verstehen will, muss daher auch versuchen zu verstehen, wie die Wikipedia funktioniert und wie sie sich heute in unserem Alltag auswirkt. Und da sich die Wikipedia selbst als “The free encyclopedia” bezeichnet, handeln viele dieser Lektionen von der Freiheit im Internet.

 

Frei wie Freibier

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Die offensichtlichste Freiheit der Wikipedia ist: Sie steht völlig kostenfrei zur Verfügung. Jeder Internetnutzer kann die Enzyklopädie unbeschränkt lesen – angesichts von immer weiter verbreiteten Bezahlschranken im Internet ist dies immer weniger selbstverständlich. Um eine bekannte Metapher zu verwenden: Die Online-Enzyklopädie ist frei wie Freibier.

Auch zu Beginn der Wikipedia waren freie und hochqualitative Online-Inhalte noch nicht der Normalfall. Gerade für die Ersteller etablierter Enzyklopädien war es daher ein Schock, dass es unbezahlte Autoren innerhalb nur weniger Jahre schafften, den Spezialverlagen mit oft über hundertjähriger Tradition Konkurrenz zu machen.

Hatten Brockhaus und Co. in den ersten Jahren in punkto Verlässlichkeit, Sprache und Konsistenz die Nase vorn, machten sich die Vorteile der kostenfreien Alternative immer stärker bemerkbar: Dank der rein digitalen Erscheinungsweise war die Wikipedia ausführlicher, aktueller und oft zugänglicher als die klassischen Print-Enzyklopädien.

Zwar kam es immer wieder zu spektakulären Fehlinformationen in der Wikipedia. So dichtete beispielsweise ein Witzbold 2009 dem Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg den zusätzlichen Vornamen “Wilhelm” an, der dann prompt von vielen Medien übernommen wurde. Doch demgegenüber stand die Genauigkeit in anderen Fragen: So konnte Wikipedia als erstes Nachschlagewerk die korrekte Länge des Rheins verzeichnen – ein Zahlendreher hatte sich in den etablierten Nachschlagewerken über Jahrzehnte halten können.

Angesichts der großteils verlässlichen kostenlosen Netz-Alternative, erschien es für das Publikum immer weniger attraktiv, sich ein 24- oder gar 30-bändiges Nachschlagewerk für mehrere Tausend Euro ins Regal zu stellen. Die letzte Ausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie wurde auf der Frankfurter Buchmesse 2005 vorgestellt, die Encyclopædia Britannica erschien noch bis 2010 als gedruckte Version. Zwar existieren noch Online-Angebote mit dem Namen beider Enzyklopädien – sie können aber kaum noch an die Relevanz vergangener Zeiten heranreichen.

Dass der Besuch von Wikipedia selbst nichts kostet, ist der Wikimedia Foundation, der Organisation hinter der Online-Enzyklopädie, nicht genug. Mit dem Projekt “Wikipedia Zero” schließt sie Zusammenarbeiten mit Mobilfunkprovidern insbesondere in Entwicklungsländern, damit den Nutzern auch keine Mobilfunkgebühren in Rechnung gestellt werden. Dieses Projekt wird aber von Befürwortern der Netzneutralität kritisiert. Ihr Argument: Durch Projekte wie Wikipedia Zero werde langfristig eher verhindert, dass Nutzer Zugriff auf das volle Internet haben. Die Wikimedia Foundation hingegen argumentiert: Kostenfreier Zugriff auf das in Wikipedia versammelte Wissen ist so essentiell für Menschen, dass eine strenge Interpretation der Prinzipien der Netzneutralität dagegen zurückstehen muss.

 

Frei wie freie Rede

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Nicht nur Leser bekommen freien Zugang zur Wikipedia, sondern auch Autoren. Während auf anderen Plattformen mittlerweile sogar Leserkommentare nur nach vorheriger Registrierung zugelassen sind, kann man die Wikipedia ohne jede Anmeldung editieren. Zwar können sich Autoren einen Account anlegen, der es ihnen zum Beispiel ermöglicht, mit anderen Wikipedianern zu kommunizieren – aber auch hier sind die Hürden denkbar niedrig. So gibt es keinerlei Zwang einen realen Namen anzugeben, selbst die Angabe einer E-Mail-Adresse ist freiwillig.

Diese Politik des offenen Zugangs hat natürlich auch Folgen. Gerade wenn Jugendliche am Schulcomputer sitzen, wird die Wikipedia geradezu überschwemmt mit witzig gemeinten Beiträgen bis hin zum Penisbild, das mitten in einem Artikel auftaucht. Um solche Überraschungen zu vermeiden, haben die Wikipedia-Communities viele nachgelagerte Hürden und Kontrollen eingebaut.

So gibt es ein eigenes künstliches neuronales Netz, das jede Änderung darauf überprüft, wie wahrscheinlich es sich um Vandalismus handelt. Einige Wikipedia-Ausgaben sind auch dazu übergegangen, Änderungen erst für die Allgemeinheit sichtbar zu machen, wenn sie ein erfahrener Wikipedia-Autor bestätigt hat. Bei besonders umstrittenen Themen können die freiwillig arbeitenden Administratoren auch Sperren verhängen, um die Verbreitung von Gerüchten oder Falschbehauptungen zu unterbinden.

Das Engagement für freie Rede sorgt jedoch auch dafür, dass die Wikipedia in einigen Ländern nicht erreichbar ist. Seit Jahren steht die Online-Enzyklopädie zum Beispiel in China und im Iran ganz oben auf der Liste unerwünschter Angebote. Auch die Türkei hat den Zugang zur Online-Enzyklopädie seit April 2017 gesperrt.

Im Konflikt zwischen der Freiheit des Zugangs und der Freiheit, sich unbeeinflusst zu informieren, zieht die Wikipedia-Community gewöhnlich eine harte Linie: Wer will, dass bestimmte Informationen aus der Wikipedia verschwinden, muss zeigen, dass sie gegen wikipedia-eigene Regeln verstoßen – beispielsweise eine unbelegte Verleumdung oder eine Verletzung des Urheberrechts.

Ist dies nicht der Fall, beißen auch staatliche Stellen auf Granit. So musste die britische Internet Watch Foundation im Jahr 2008 ihren Versuch aufgeben, das Cover des Albums “Virgin Killer” der deutschen Band “The Eagles” für britische Nutzer aus der Wikipedia auszufiltern, weil darauf ein nacktes 12-jähriges Mädchen zu sehen ist. Und das französische Militär scheiterte 2013 daran, Details über einen Militärstandort aus der Online-Enzyklopädie entfernen zu lassen – Wikipedianer konnten nachweisen, dass die vorgeblich geheimen Informationen allesamt schon öffentlich bekannt waren.

 

Die Freiheit zu kopieren

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Ein weiterer revolutionärer Aspekt der Wikipedia: Man darf sie nicht nur lesen, sondern auch kostenfrei kopieren und weiterverarbeiten. Die hauptsächlich verwendete Creative-Commons-Lizenz schreibt lediglich vor, dass die Nachnutzer ihre Quelle offenbaren und das Ergebnis ebenfalls wieder unter einer freien Lizenz freigeben.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass nichts auf die Wikipedia hochgeladen werden darf, was unter einer restriktiveren Urheberrechtsbeschränkung steht. Wer ein Foto hochlädt, muss seine Autorenschaft bestätigen und die Genehmigung zum Kopieren bestätigen. Immer wieder muss die Online-Enzyklopädie von Texten bereinigt werden, die von Autoren unerlaubt kopiert worden sind. Insbesondere die Redakteure der deutschen Wikipedia-Ausgabe sind hier unerbittlich.

Die Offenheit des Projekts reicht bis in den Kern des Projekts. So ist auch die Software MediaWiki, auf der die Wikipedia läuft, eine Open-Source-Software. Das bedeutet im Endeffekt: Jeder kann seine eigene Kopie der Wikipedia ins Netz stellen – kostenlos. Dass dies nicht allzu oft geschieht, liegt daran, dass es sehr schwer ist, den Wissensschatz zu unterhalten, ohne eine engagierte Community zu haben. Viele Kopien werden recht schnell von Spam oder Störenfrieden überschwemmt.

Die Fixierung der Wikipedia-Community auf die Kopier-Freiheit hat zuweilen skurrile Folgen: So ist es nicht erlaubt, Videos in den verbreitetsten Dateiformaten hochzuladen, erst ab Ende 2017 war es erlaubt, MP3-Dateien hochzuladen. Grund: Der Patentschutz bestimmter Formate kann unter Umständen eine Zahlungspflicht auslösen. Auch wenn Privatnutzer ohne Bedenken mit solchen Dateien umgehen können, ist die Wikipedia äußerst streng, wenn es darum geht, die Nachnutzung seiner Inhalte sicherzustellen.

Die Freiheit machen sich freilich auch Geschäftemacher zunutze. So tauchen auf Plattformen wie Amazon immer wieder Bücher auf, die sich als kostspielige Textsammlungen zu obskuren Spezial-Themen ausgeben, die sich dann in Wahrheit als plumpe Zusammenstellung von Wikipedia-Texten herausstellen. Solange die Lizenz und Quellen im Buch enthalten sind, ist dies sogar legal.

 

Freie Fahrt für Google und Co.

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Größter Nachnutzer der freien Online-Inhalte sind aber Internetkonzerne. So gehörte Google indirekt zu den ersten Groß-Förderern. Die mit vielen Links angereicherten Texte der Online-Enzyklopädie entsprachen nämlich exakt den Qualitätskriterien, nach denen die automatisierten Suchroboter des Online-Konzerns im Netz suchten. Daher landeten schon früh Wikipedia-Artikel ganz oben auf den Ergebnislisten der Suchmaschine. Und mit dem rapiden Erfolg von Google stieg auch die Bedeutung von Wikipedia.

Mit “Knol” versuchte Google 2008 eine eigene Wissensplattform zu schaffen. Das Angebot: Wer bei Google statt in der Wikipedia schreibt, konnte sich an den zu erzielenden Werbeeinnahmen beteiligen. Zwar konnten auf der Plattform 700.000 Artikel gesammelt werden, doch schon bald musste Google einsehen, dass das Projekt gegen die Kollaboration auf der freien Online-Enzyklopädie keine Chance hatte. Seit 2012 ist „Knol“ wieder offline.

Statt eine eigene Wissensplattform aufzubauen, macht sich Google das Wissen in der Wikipedia direkt zunutze. So werden auf den Suchergebnisseiten mittlerweile Kurzdefinitionen zu einzelnen Suchbegriffen angezeigt, die in den meisten Fällen aus der Wikipedia und dem Schwesterprojekt Wikidata stammen. Wer zum Beispiel wissen will, wie viele Einwohner München hat, muss auf kein Suchergebnis klicken, sondern bekommt die wesentlichen Daten zu München direkt in einem Kasten auf der Suchmaschinenseite geliefert. Zwar werden von Google dafür auch andere Quellen ausgewertet – Wikipedia und das Wikidata liefern aber das Fakten-Grundgerüst.

Auch andere Konzerne bedienen sich gerne bei der Wikipedia. So hat Amazon sie in seine E-Book-Lesegeräte als Wörterbuch integriert, mit dem der Nutzer unbekannte Begriffe oder Orte nachschlagen kann. Auch Sprachassistenten wie Siri, Alexa oder Google Home fragen Wissen aus der Online-Enzyklopädie ab. Facebook hat in seinem kostenlosen Internetangebot für Drittweltländer auch die Wikipedia integriert.

 

Frei wie Kultur

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In dem Bestreben möglichst große Teile des Weltwissens zu dokumentieren, sind Wikipedianer auch auf der Mission, möglichst weite Teile des kulturellen Wissens für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So suchen Wikipedianer im Rahmen der sogenannten “GLAM-Initiative” den Schulterschluss mit Galerien, Bibliotheken, Archiven und Museen. Viele Institutionen machen von der Möglichkeit Gebrauch: Einige laden Wikipedianer zu einem Foto-Workshop ein, um Exponate für die Wikipedia festzuhalten, andere öffnen ihre Kataloge und Archive, um die bei ihnen versammelten Informationen mit öffentlichen Daten zu verknüpfen. 100 Wikipedia-Autoren wurden bereits von verschiedenen Institutionen engagiert, um Möglichkeiten der Kooperation zu erkunden – vom New Yorker Museum of Modern Art bis hin zum Stadtmuseum Berlin.

Doch nicht jeder Wikipedianer will darauf warten, dass Museen ihre Kunstschätze von sich aus öffnen. So kopierte ein Autor Bilder aus einer Museumsveröffentlichung der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen und lud sie auf Wikipedias Multimedia-Plattform Wikimedia Commons hoch. Sein Argument: Das Urheberrecht der abgebildeten Portraits ist lange abgelaufen. Das Museum klagte jedoch gegen die ungefragte Veröffentlichung und bekam vor dem Oberlandesgericht Stuttgart recht: Zwar seien die eigentlichen Kunstwerke mittlerweile gemeinfrei – auf die Fotos der Gemälde könne das Museum aber weiterhin Urheberrechte geltend machen. Mit der komplizierten Rechtsfrage muss sich 2018 nun der Bundesgerichtshof beschäftigen. 

 

Fazit

In kaum einem anderen Projekt wurde Offenheit so konsequent umgesetzt wie in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Wer sich mit den Ideen und Effekten der Freiheit im Internet beschäftigen will, ist gut beraten von dem Projekt zu lernen – mehr als nur die entsprechenden Artikel in der Online-Enzyklopädie nachzuschlagen. Das Kollektiv der Wikipedia-Autoren mag nicht immer die perfekte Lösung gefunden haben – es kann aber davon berichten, auf welche Widerstände die Internetfreiheit stoßen kann – und dass es manchmal nicht einmal nötig ist, Mauern niederzureißen, um eine neue Offenheit zu erreichen.

 

Über den Autor

Torsten Kleinz

Torsten Kleinz ist freier Journalist aus Köln. Seit dem Jahr 2000 schreibt er für zahlreiche Medien zum Spannungsverhältnis zwischen neuen Techniken und Gesellschaft.


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